Die Sonne stand hoch über der dritten Ebene, wo das Licht in goldenen Schleiern durch das dichte Blätterdach fiel und die Hügel sich wie ruhende Giganten in die Ferne streckten. In Aerendell – der Stadt des Windes – summten die Turbinen in den gewaltigen Mauern wie atmende Maschinen, gespeist vom ewigen Strom der Luft, der durch die Straßen zog und den Ort lebendig hielt. Hier glaubte man nicht nur an Geister – man lauschte ihnen.
In der kleinen Taverne Zum Windrufer, unweit des nördlichen Haupttors, saßen zwei Gestalten an einem Fenstertisch im Schatten eines breiten Windsegels. Der Raum roch nach Kräutern, altem Holz und frisch gebackenem Brot. Doch auf ihrem Teller lag nur noch ein letzter Krümel. Und selbst der war umkämpft.
Merlin Aetheris lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah mit übertriebener Ernsthaftigkeit auf das winzige Stück Teig vor sich. „Das war’s“, sagte er mit gespielter Tragik. „Unsere Münzen sind Geschichte. Offiziell.“
Er sah nicht aus wie jemand, der in so einer Lage steckte. Sein zerzaustes, tiefschwarzes Haar wehte leicht im Luftzug aus dem Fenster, und seine smaragdgrünen Augen funkelten selbst im Dämmerlicht wie flüssiges Glas. Sein grün-gold bestickter Umhang war zwar abgetragen, aber sauber, und er trug ihn mit einer Selbstverständlichkeit, als würde er gleich eine Audienz beim Hochkönig betreten und nicht eine Wirtin um ein Stück Brot anbetteln. Um seinen Hals hängt ein blau leuchtender Anhänger – ein filigran eingefasster Kristall aus dem Erbe seiner Mutter Elara Aetheris. Das silberne Schmuckstück pulsiert sanft mit magischer Energie und symbolisiert seine Verbindung zur Geisterwelt. Eine Abenteurerrune trug er nicht – nicht, weil sie ihm verwehrt war, sondern weil er sich nie darum bemüht hatte.
Celestina Auralis saß ihm gegenüber – aufrecht, ruhig, mit gefalteten Händen und einem Blick, der viel zu ernst für einen leeren Teller war. Ihr platinweißes Haar fiel offen über ihre Schultern, seidig und schwer wie Licht im Morgengrauen. Eine einzelne Strähne hatte sich gelöst und kräuselte sich leicht im Wind, der durch das offene Fenster streifte – wie ein Hauch von etwas Himmlischem. Auf ihrer Stirn ruhte ein zierliches Diadem aus silbernem Metall, verziert mit feinen Gravuren in Form von Engelsflügeln. Es wirkte nicht wie Schmuck, sondern wie ein Fragment eines alten Versprechens – still, stolz, unantastbar. Ihre Rüstung war unter einem hellen Reisemantel verborgen, doch man sah die Gravuren auf den Schultern durchblitzen – filigran, himmlisch. Und selbst wenn man nichts davon gesehen hätte: Ihre Aura sprach für sich. Sanft, aber unübersehbar.
Celestina trug keine sichtbare Rangmarkierung. Ihre himmlische Plattenrüstung – silbern, graviert mit Engelsflügeln und leuchtenden Edelsteinen – sprach für sich. Kein Armband, kein Ausweis.
Die Wirtin kam vorbei, stellte einen Krug Wasser auf den Tisch – und blieb stehen. Sie war vielleicht Mitte fünfzig, kräftig gebaut, mit Haaren, die aussahen, als hätten sie sich dem Wind schon hundertmal widersetzt und meistens gewonnen.
Sie musterte die beiden. Erst Merlins zerzaustes Haar, dann Celestinas Diadem.
„Ihr seht nicht aus wie Touristen.“
Merlin hob eine Braue. „Und wie sehen Touristen so aus?“
„Wie Leute, die noch Geld haben“, sagte sie trocken und zog die Brauen hoch. „Ihr dagegen…“ Sie ließ den Satz offen, tippte mit dem Finger gegen den leeren Teller. „Seht eher aus wie Abenteurer. Oder sowas in der Art.“
Celestina sah kurz zu Merlin, dann wieder zur Wirtin. „Sind wir nicht.“
„Noch nicht“, murmelte die Frau, fast beiläufig, und ging zurück zur Theke.
Merlin sah ihr nach, dann schnaubte er leise. „Tja. Das war subtil.“
„Aber nicht falsch“, meinte Celestina. Sie nahm den Krug, schenkte sich Wasser ein, nippte daran – dann hielt sie inne. „Weißt du, vielleicht sollten wir wirklich—“
„Zur Gilde?“, warf Merlin ein.
„Nur um zu fragen. Vielleicht wissen sie ja, wie man auf dieser Ebene… naja, überhaupt klarkommt.“
„Wäre ein Anfang“, murmelte Merlin. „Besser als weiter in Tavernen zu sitzen und Krümel zu teilen.“
Celestina lehnte sich leicht vor, ihr Blick wurde weicher. „Ich mein… wir sind wortwörtlich durch ein verfluchtes Baumwurzel-Portal gefallen. Ohne Karte. Ohne Plan. Und jetzt sind wir in einer Stadt, die nach Geistern klingt.“
„Ich fand das Portal stilvoll“, erwiderte Merlin. „Es war dramatisch, rätselhaft – sehr ich.“
„Du bist runtergefallen und hast dir den Fuß verknackst.“
„Ich bin… mit Würde gefallen.“
Celestina lachte leise. Dann stand sie auf, ihr Umhang glitt mit einem leichten Rascheln über die Rückenlehne.
„Na dann, würdevoll gestürzter Held – auf zur Gilde?“
„Wenn sie uns nicht rauswerfen, bevor wir Hallo sagen.“ Merlin erhob sich, streckte sich einmal und nickte der Wirtin beim Gehen zu. „Danke für Wasser und… existenzielle Hinweise.“
Die Frau nickte zurück, ohne aufzuschauen.
Und dann trugen sie den Wind wieder hinaus in die Stadt.
Die Tür der Taverne fiel leise ins Schloss, und ein frischer Luftstoß fuhr den beiden entgegen – nicht kalt, aber voller Bewegung. Der Wind von Aerendell war kein Wetter. Er war ein Wesen. Manchmal sanft, manchmal fordernd – immer wach.
Die Stadt breitete sich vor ihnen aus wie ein geordnetes Labyrinth aus Stein, Segeltuch und Klang. Helle Gassen zogen sich zwischen eng stehenden Häusern entlang, deren Dächer von kleinen Windtürmen und metallenen Windspielen gesäumt waren. Überall rotierten Segel, flatterten Banner, tanzten Klangröhren im Rhythmus der Brise.
Man musste nicht lange überlegen, warum man diesen Ort die Stadt des Windes nannte.
Die Architektur selbst schien gebaut worden zu sein, um den Wind durch bestimmte Kanäle zu leiten. Zwischen den Fassaden entstanden kleine Wirbel, die Geräusche trugen – manchmal Flüstern, manchmal Musik. Es hieß, ein Baumeister aus Ferraval hätte vor über hundert Jahren das gesamte Nordviertel wie ein riesiges Blasinstrument konstruiert. Nur wenige glaubten es. Und doch... klang es so.
Celestina ging ruhig neben Merlin, ihre Augen wanderten von einem Windspiel zum nächsten, wie von einem stillen Wunder zum anderen. Ihr Gesicht war entspannt, beinahe andächtig – aber sie sagte nichts.
Merlin hingegen zog sich den Umhang enger um die Schultern und sah ihr von der Seite her zu.
„Du sagst ja gar nichts“, meinte er nach einer Weile.
„Ich höre zu“, erwiderte sie.
„Dem Wind?“
„Den Leuten. Der Stadt. Es ist lebendig. Nicht laut, nicht still. Wie ein Lied, dessen Melodie man spürt, bevor man die Worte kennt.“
Merlin warf ihr einen schrägen Blick zu. „Klingt bezaubernd. Von dir?“
Celestina schüttelte leicht den Kopf. „Von Rideus. Aus Die Melodie der Ebenen. Er schreibt über das, was man hört, wenn man den Lebenden wirklich lauscht.“
„Belesene Frauen sind ziemlich attraktiv“, schmunzelte Merlin.
Sie blinzelte – überrascht, halb entrüstet. Ihre Wangen färbten sich rosa, und sie wandte schnell den Blick ab.
Merlin grinste. Treffer.
Sie gingen eine Weile schweigend weiter. An einer Straßenecke flog ihnen ein zerfleddertes Flugblatt gegen das Bein, das sofort vom nächsten Luftstoß weitergerissen wurde.
„Glaubst du, sie merken, dass wir nicht von hier sind?“, fragte Celestina leise.
„Wenn nicht, dann merken sie’s spätestens, wenn wir anfangen, zu allem Fragen zu stellen“, murmelte Merlin. „Mit diesem unschlagbaren ‚Wir haben keinen Plan‘-Blick.“
Celestina schmunzelte. „Sprich nur für dich.“
„Ich tu nie was anderes.“
Und dann sahen sie es: Ein großer Bau, halb aus hellem Stein, halb aus schimmerndem Windglas. Über dem Torbogen spannte sich ein beweglicher Mechanismus aus goldenen Metallsegeln, die sich bei jeder Böe drehten und kleine Töne erzeugten – wie ein Glockenspiel, das nie ganz aufhörte zu atmen.
Der Sitz der Abenteurergilde von Aerendell.
Celestina blieb stehen, sah auf das kunstvolle Wappen über dem Eingang – ein stilisierter Windgeist, eingefasst in ein Rund aus Runen.
„Hoffentlich sind sie freundlich“, flüsterte sie.
Merlin trat einen Schritt vor, ließ den Blick wandern. „Wenn nicht – du lenkst sie ab, ich schau mir die Kasse an.“
„Merlin!“
Er grinste. „War nur ein Test. Du hast bestanden.“
Sie schüttelte den Kopf. Aber sie lächelte dabei.
Vor ihnen öffnete sich ein kleiner Platz – gepflastert mit hellen Steinen, in deren Fugen sich das Licht fing wie Wasser. Rund um die Fläche standen Bänke, auf denen einzelne Abenteurer saßen: manche reinigten ihre Waffen, andere verhandelten leise über Karten oder alte Relikte. Ein paar Händler boten Proviant und Ausrüstungsflicken an, unter Zeltdächern, die im Wind schaukelten.
Die Gilde selbst bildete die nördliche Grenze des Platzes – ein Bau aus hellem Stein und Windglas, über dem sich der goldene Mechanismus der drehenden Segel spannte, die leise Musik in die Luft streuten.
Und gemeinsam betraten sie das Gildenhaus von Aerendell.
Drinnen war es ruhiger, als man erwarten würde. Kein Marktplatzlärm, kein metallisches Scheppern. Die Geräusche draußen blieben draußen – als würde das Gebäude selbst den Wind bitten, leise zu sein.
Der Empfangsraum war hoch und hell, mit Bögen aus hellem Stein und beweglichen Glasfenstern, die sich je nach Luftstrom leicht schlossen oder öffneten. Auf einer erhöhten Plattform im Zentrum saß ein einzelner Mitarbeiter hinter einem halbmondförmigen Tresen. Kein Schreibtisch voll Papier, kein magisches Leuchten – nur eine alte Ledermappe, ein Kaffeebecher, und ein Stapel flacher Steintafeln, in die feine Linien geritzt waren.
Der Mann war vielleicht Anfang sechzig, mit graublondem Haar, einer Hornbrille auf der Nase und dem Ausdruck eines geduldigen Lehrers. Als sie nähertraten, hob er den Blick und lächelte. Freundlich, ruhig, neugierig.
„Guten Tag! Willkommen in der Gilde von Aerendell. Was kann ich für euch tun?“
Merlin trat vor, beide Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Wir hätten ein paar Fragen… vielleicht zu viele.“
Der Mann lachte leise. „Dann fangt mit der wichtigsten an.“
Celestina trat nun ebenfalls an den Tresen. „Wir sind neu auf dieser Ebene. Und wir würden gern… als Abenteurer arbeiten.“
„Ihr habt also noch keine Rune?“ fragte der Mann, und als die beiden den Kopf schüttelten, nickte er langsam. „Dann will ich euch nicht mit Formalitäten langweilen. Ich erkläre es euch so einfach wie möglich.“
Er deutete auf eine der Steintafeln. Dort war das Symbol der Gilde eingraviert: ein Kreis, darin ein stilisierter Kristall, von fünf Linien durchzogen.
„Abenteurer in Calyphera tragen eine magische Rune – ein Artefakt, das alle wichtigen Daten speichert: Rang, Erfolge, Zugehörigkeit, Fähigkeiten. Sie ersetzt die alte Lizenz aus Papier, die wir früher hatten.“
Merlin runzelte die Stirn. „Ein Kristall mit eingebautem Lebenslauf. Charmant.“
Der Mann grinste. „So in etwa. Die Rune wird magisch mit euch verbunden. Sie erkennt euch, und nur euch. Sie wird am Körper getragen – als Halskette, Armband, Haarspange, was auch immer. Die Form ist frei wählbar, das Material auch.“
„Und wo… bekommt man so eine?“ fragte Celestina.
„Nur auf Ebene 1“, antwortete er sanft. „Die Runen werden ausschließlich in den vier Hauptgilden der großen Königreiche ausgestellt. Hier auf Ebene 3 – oder sonst irgendwo dazwischen – ist das nicht möglich.“
Celestina legte leicht den Kopf schief. „Warum nur dort?“
„Wegen der magischen Versiegelung. Jede Rune wird mit einem göttlich kodierten Kern versehen – eine uralte Runentechnik, entwickelt von Daryon selbst, dem Gründer der Gilde.“ Der Mann legte die Fingerspitzen zusammen. „Solch ein Ritual benötigt stabilen Boden, Zugriff auf die Kernbibliotheken der Gilde und... viel Vorbereitung. Es ist kein Prozess, den man mobil oder improvisiert durchführen kann.“
Merlin nickte langsam. „Okay. Also ab nach Ebene 1.“
„Genau“, bestätigte der Gildenmitarbeiter. „Dort gibt es vier Orte zur offiziellen Registrierung.“
Er nahm eine zweite Tafel zur Hand, auf der vier eingravierte Symbole zu sehen waren: eine goldene Waage, ein Schwert und eine Axt, ein blauer Totenschädel und ein stilisierter Baum.
Er deutete nacheinander auf die Symbole:
„Glanzfurt, Hauptstadt von Aurivelle. Symbol: die Goldene Waage. Hier dreht sich alles um Handel, Diplomatie und Einfluss. Wer gut mit Worten ist und ein Händchen für Verträge hat, wird dort glücklich.
Stahlruh, Hauptstadt von Ferraval. Schwert und Axt. Ein Ort für Krieger, Taktiker, Duellanten – sehr direkt, sehr streng. Wer Stärke zeigen will, geht dorthin.
Nachtklippe, Hauptstadt von Umbraheim. Blauer Totenschädel. Geheimniskrämer, Schattenläufer, Nekromanten – dort gibt’s viele von ihnen. Wer aus dem Verborgenen agiert, findet dort seinen Platz.
Und dann: Ysildra, die Hauptstadt von Sylveria. Ein stilisierter Baum. Die jüngste aller Hauptstädte – tief verwoben mit Natur, Magie und Tradition. Sie wurde von Log Horizon gegründet, der legendären S+-Gruppen. Aber: nicht leicht reinzukommen. Sie sind sehr wählerisch.“
„Klingt... als würde uns keiner mögen“, murmelte Merlin.
„Ganz im Gegenteil“, sagte der Mann freundlich. „Ihr habt alle Optionen offen. Ihr müsst nur hinkommen.“
„Und wie?“ fragte Celestina. „Einfach durch den nächsten Tunnel nach unten?“
Der Gildenmitarbeiter lachte. „Wäre schön. Aber zwischen den Ebenen gibt’s nur eine Verbindung: Portale.“
Er hob eine dritte Tafel – darauf waren feine Linien eingraviert, die sich durch stilisierte Ebenen zogen.
„Aerendell besitzt ein eigenes Portal nach Silberquell – eine Stadt auf Ebene 1, die dem Königreich Aurivelle zugeordnet ist. Aber das Portal hier ist nicht öffentlich. Es gehört der Stadt selbst – die Abenteurergilde hat keinen Zugriff. Man braucht eine Genehmigung, um es zu nutzen.“
„Wer entscheidet darüber?“ fragte Merlin.
„Der Magistrat von Aerendell“, antwortete der Mann. „Oder die Stadtwache – je nachdem, was euch lieber ist.“
Merlin verzog das Gesicht. „Wahrscheinlich keiner von beiden.“
„Die beste Option für euch ist das Gildenportal in Risena“, sagte er ruhig. „Risena liegt im Westen dieser Ebene, direkt an der Küste. Dort findet ihr ein offizielles, voll aktives Gildenportal nach Ebene 2 – und von dort geht es direkt weiter nach Glanzfurt, der Hauptstadt von Aurivelle auf Ebene 1.“
Merlin sah ihn schräg an. „Und der Haken?“
„Fünf Tagesreisen. Zu Fuß. Ohne Reittier vielleicht Sechs oder Sieben. Aber der Weg ist sicher – befestigte Straße, regelmäßige Poststationen, keine bekannten Monsterlager. Für Nichtregistrierte wie euch ist das der offiziell empfohlene Pfad.“
„Und inoffiziell?“, fragte Merlin nach.
Der Mann schwieg kurz. Dann zuckte er mit den Schultern. „Sagen wir: Es gibt andere Wege. Wilde Portale, geheime Durchgänge, verlassene Knotenpunkte. Aber ich darf euch dazu nichts sagen. Das wäre ein Regelbruch.“
Celestina warf Merlin einen vielsagenden Blick zu. Der grinste nur leicht.
Der Mitarbeiter legte nun eine flache Tafel mit eingravierten Buchstaben und Linien auf den Tresen – eine Rangskala.
„Wenn ihr euch registriert – offiziell –, bekommt ihr, wie bereits gesagt eine Rune. Diese Rune erkennt eure magische Signatur, speichert eure Fortschritte, Aufträge, Belohnungen und eventuelle Sondergenehmigungen. Sie ist nicht nur ein Ausweis – sie ist ein Teil von euch.“
Er deutete mit einem Finger auf den unteren Teil der Skala.
„F-Rang: Einsteiger. Keine Prüfung nötig, kein offizieller Status, aber Zugang zu einfachen Hilfsaufträgen.“
Ein zweiter Finger wanderte weiter.
„E-Rang: Erste Aufträge mit kleinem Risiko. Lieferungen, Erkundung, Botengänge. D-Rang: Standardabenteurer. Ein paar bestandene Aufträge, etwas Routine.“
Dann wanderte er weiter nach oben: „C-Rang: Solide Kämpfer oder Magier. Erste große Anerkennung. Zugang zu befestigten Außenposten und besseren Belohnungen.“
„B-Rang: Veteranen. Häufig in Gruppen unterwegs. Zugang zu gefährlicheren Missionen, Expeditionen, Grenzsicherung.“
„A-Rang: Elitestatus. Nur durch Empfehlung oder Prüfung. Sie führen Trupps, übernehmen Einzelmissionen von strategischem Wert.“
Dann tippte er ganz oben auf zwei Buchstaben:
„S. Und S+. Die seltensten Ränge“, sagte der Mann ruhig. „Niemand bewirbt sich dafür – sie sind nicht zu erreichen durch Bitten oder Beziehungen. Man verdient sie. Langsam. Durch Prüfungen, durch Berichte, durch Taten, die Eindruck hinterlassen.“
Er tippte leicht auf die Tafel. „Jeder beginnt mit F. Selbst wenn ihr Götterblitze schleudern könnt – ohne Registrierung seid ihr niemand. Und ohne Prüfung bleibt ihr genau da, wo ihr angefangen habt.“
„Und wenn man nie geprüft wird?“, fragte Merlin.
„Dann bleibt ihr F. Vielleicht ewig. Aber das heißt nicht, dass ihr versagt habt – manche bleiben freiwillig unten. Es gibt ehrenhafte F-Rang-Abenteurer, die mehr erlebt haben als manch ein C-Rang.“
Er sah sie beide an. „Ein paar Namen mit S+-Rang… sind inzwischen Legenden. Man sagt, die Götter selbst erkennen sie. Aber das sind Geschichten. Für später.“
Merlin nickte langsam, fast ehrfürchtig.
Celestina sagte leise: „Dann sollten wir wohl los. Nach Risena.“
Der Mann lächelte. „Wenn ihr die Gasse hinter dem östlichen Marktplatz nehmt, gelangt ihr zur alten Karawanenstraße. Haltet euch an den Küstenpfad, nicht ans Binnenland. Die Karte holt ihr euch beim Stadtarchiv – fragt nach einer Wanderlizenz, das kostet nichts.“
Merlin nickte. „Vielen Dank. Für alles.“
„Keine Ursache“, sagte der Mann, dann ernsthafter: „Passt auf euch auf. Nicht jeder Neuling schafft es bis zur Rune.“
„Dann werden wir eben Ausnahmen“, murmelte Merlin.
Gemeinsam gingen sie aus der Gildenhalle wieder hinaus in die Stadt.
Der Platz vor der Gilde war breiter als erwartet – ein offenes Halbrund aus hellem Stein, eingefasst von Bänken, Säulen und Windsegeln. Einige Abenteurer standen beisammen, tranken, diskutierten oder würfelten. Weiter hinten luden Händler Kisten von kleinen Wagen ab, und in der Luft lag das Zwitschern von Windspielen, das Rascheln von Papier – und plötzlich: ein lautes, lallendes „Heeey!“
Merlin und Celestina hatten gerade den Treppenabsatz verlassen, als ein stämmiger Mann mit vernarbtem Gesicht ihnen den Weg versperrte. Seine Wangen waren rot, seine Bewegungen unsauber. Der Geruch von billigem Branntwein schlug ihnen wie ein Fauststoß entgegen.
„Was für ein Prachtexemplar von einer Frau“, lallte er, und deutete mit einem sabbernden Grinsen auf Celestinas Hüfte. „Dein Hintern verdient einen Applaus, Süße. Was machst du bei so ’nem mageren Elfenbübchen wie dem da?“
Celestina zuckte sichtbar zusammen. Ihre Hand wanderte automatisch an das Diadem auf ihrer Stirn, dann senkte sie sich wieder. Ihr Blick wurde fest, aber sie wich nicht zurück.
„Ich denke, Ihr habt genug getrunken“, sagte sie mit klarer Stimme. „Geht nach Hause.“
Der Mann kicherte. „Oh, die Kleine hat Biss.“
Bevor er näherkommen konnte, trat Merlin einen Schritt vor. Ganz ruhig. Die Hände in den Taschen, das Kinn leicht gesenkt.
„Mein Freund“, sagte er mit einem Tonfall, der sich irgendwo zwischen Spott und Warnung bewegte, „ich glaube, sie war höflicher, als du verdienst.“
Der Mann blinzelte. Dann lachte er schallend, schob sich noch näher, bis sie seinen Atem riechen konnten. „Du? Was willst du tun? Mit deinen hübschen Knöpfen und dem Elfenschnickschnack? Einer wie du hat mir gar nichts zu sagen.“
„Du hast keine Ahnung“, murmelte Merlin, sein Blick scharf wie eine Rasierklinge. Doch bevor der Mann zuschlagen konnte – oder auch nur einen Schritt weiterging – geschah es.
Ein Luftstoß – kaum sichtbar, kaum spürbar. Und doch präsent. Plötzlich stand ein kleines, schwebendes Wesen zwischen ihnen.
Sylphy.
Kaum größer als Merlins Kopf – zierlich wie ein Sonnenstrahl, doch von solcher Präsenz, dass die Luft selbst für einen Moment innehielt.
Ihr Haar war ein wogender Wasserfall aus grünem Licht, durchzogen von goldenen Reflexen, als wäre der Frühling selbst in Bewegung. Einzelne Strähnen kräuselten sich wie verspielter Wind, und eine weiße Blüte mit smaragdgrünem Kelch schmiegte sich hinter ihr spitzes Ohr.
Ihre Augen leuchteten wie geschliffene Smaragde – lebendig, neugierig, uralt. Sie trugen die Erinnerung an Stürme und an das Flüstern der Berge, über die sie hinwegglitten.
Zwei durchscheinende Flügel ragten aus ihrem Rücken, groß im Verhältnis zu ihrem Körper, mit schillernden Farbspielen in Lila, Türkis und Gold. Sie bewegten sich kaum, doch jeder Flügelschlag ließ die Welt beben – nicht laut, sondern wie eine Erinnerung an Wind, der einmal da war und jederzeit zurückkehren konnte.
Sie trug ein leichtes, irisierendes Gewand, das wirkte wie gewebt aus Morgentau und Blütenblättern. Es schmiegte sich eng an ihre kleine Gestalt und war durchsetzt mit zarten Goldverzierungen und Bändern aus Licht. Ein grüner Edelstein lag über ihrem Brustbein – der gleiche Farbton wie Merlins Augen.
Ihre Anwesenheit veränderte den Raum – nicht durch Macht, sondern durch Harmonie. Sylphy war keine Waffe. Sie war der Wind, bevor er wählt, wohin er weht. Ein Geist. Ein Gedanke. Ein Versprechen.
Sie hob eine Hand. Ganz ruhig.
Dann kam der Wind.
Wie aus dem Nichts schleuderte eine gezielte Druckwelle den Angreifer quer über den Platz. Er überschlug sich zweimal in der Luft, krachte gegen eine Säule und rutschte dann bewusstlos zu Boden.
Ein paar Gesprächsrunden brachen ab. Köpfe drehten sich. Dann: „Das war Sylphy!“ „Bei Helios, der Windgeist!“ „Hat er… hat er sie etwa gebunden?!“ „Ketzerei!“ „Das ist verboten!“
Die Reaktionen waren nicht Erstaunen. Sie waren Empörung.
Aerendell war nicht irgendeine Stadt. Sie war die Stadt des Windes. Und Sylphy war hier mehr als ein Elementargeist. Sie war ein Symbol. Eine Hüterin. Eine Göttin des Windes – in den Herzen vieler.
Merlin stand reglos da, das Gesicht leer. Doch in seinem Kopf hämmerten die Erkenntnisse. Verdammt. Ich hätte vorher nachdenken müssen.
Die ersten Abenteurer erhoben sich. Einer griff zu seinem Schwerte. Die Menge sammelte sich, laut, angespannt. Worte wie „heilige Verbindung“, „Verbannung“ und „Blasphemie“ flogen durch die Luft.
„Wir müssen weg“, zischte Celestina plötzlich. Sie fasste Merlins Ärmel, zog leicht daran. Ihre Stimme war ruhig, aber gepresst. „Jetzt.“
Merlin schloss kurz die Augen, atmete durch – und sein Grinsen zuckte zurück. „Werd jetzt nicht rot, ja?“
„Was?“
Bevor sie reagieren konnte, griff er sie einfach – hob sie wie eine Braut, sicher, fest, ein Arm unter den Beinen, einer hinter dem Rücken.
„Merlin!“, fuhr sie auf, ihr Gesicht wurde augenblicklich tiefrot. „Was machst du da?!“
„Fliegen. Halte dich fest.“
„Sylphy!“
Der Geist verstand. Der Wind erhob sich wie ein Wispern – dann wie ein Flügelschlag. Mit einem plötzlichen Aufwind wurden sie beide emporgehoben, über die Köpfe der Menge hinweg, über das Rund des Platzes, vorbei an Türmen, Dächern, Bannern.
Einige Menschen schrieen auf. Andere blieben mit offenem Mund stehen.
Und dann, sanft wie ein Blatt im Wind, setzte Sylphy sie ein paar Straßen weiter ab – hinter einer Häuserecke, verborgen zwischen Stoffbahnen und leise tanzenden Windglocken.
Merlin stellte Celestina ab.
Sie schwankte leicht, starrte ihn an – knallrot.
Dann trat sie ihm auf den Fuß. Hart.
„Mach das NIE wieder!“
„Verstanden“, sagte er – und grinste. „Aber gib zu: Es war cool.“
Celestina atmete durch, zitternd vor Wut. Oder Scham. Oder... vielleicht beidem.
„Du bist unmöglich.“
„Ich weiß.“
Sie gingen weiter. Im Hintergrund verklingelten langsam die Windspiele.
Und Sylphy – kaum sichtbar – schwebte hinter ihnen her, stumm wie ein Versprechen.